Man muss sich einfitzen, aber das System ist schnell zu verstehen.
Leipziger Volkszeitung
10/2011
Gerade eben hat Frau Renate Klein mit einem einzigen Wurf alle hundert Kegel laut scheppernd und rumpelnd zu Fall gebracht. Das ist ihr bislang noch nie gelungen. Die 72-jährige Rollstuhlfahrerin kann es kaum fassen. Sie lacht laut und freut sich riesig. Mit ihr schauen auch Herr Siegfried Blumrich, 76, Frau Christa Schade, 73 und Thomas Heydel, 39 aufmerksam auf das mit einem Beamer an die Wand des Beschäftigungsraums geworfene Spielfeld. Dort blinkt in diesem Moment das beachtliche Ergebnis auf. Stolz nimmt Frau Klein Glückwünsche entgegen.
„Mir macht das Spielen hier großen Spaß. Ich bin von Anfang an fast jeden Mittwoch mit dabei. Man muss sich einfitzen, aber das System ist leicht verständlich. Ich bin bei so etwas eher ängstlich und Thomas hat mir sehr geholfen, dass die Hemmungen weniger werden. Jetzt trau ich mich mehr“, erzählt sie begeistert.
2009 zu Weihnachten erstand das Pflegeheim Albert Schweitzer der Diakonie Leipzig eine Wii-Spielekonsole für die Bewohner. Eine Mitarbeiterin hatte zunächst ihre eigene mit ins Haus gebracht und das Kollegium von der Praktikabilität auch für ältere und teils bewegungseingeschränkte Menschen überzeugt. Dann übernahm Thomas Heydel, ehrenamtlich in dem Heim tätig und seit eh und je passionierter Computerfan, das Ruder. Ihm, so sagt er, bereite es Freude, Menschen Technik nahezubringen, die damit sonst wenig bis gar nichts zu tun haben.
„Das Besondere beim Spielen mit dieser Konsole ist, dass sie durch eine Fernbedienung und Körperbewegungen gesteuert wird. Beim virtuellen Kegeln schwingt der Spieler die Fernbedienung mit dem rechten oder dem linken Arm wie eine normale Kugel“, erklärt der gebürtige Brandenburger. Der normale Spielablauf besteht im kurzen Drücken der A-Taste. Dann wird die B-Taste, die sogenannte Fingertaste, die sich auf der Rückseite der Fernbedienung befindet, gedrückt und gleichzeitig gehalten. Nun holt der Spieler mit Arm und Hand Schwung und löst so das Losrollen der Kugel aus. Diese gleitet – gleich ihrer realen Entsprechung und mit den vertrauten Geräuschen – über die scheinbare Bahn. Die B-Taste kann jetzt losgelassen werden. Gleichzeitig rechnen die in der Fernbedienung eingebauten Bewegungssensoren und eine Infrarotkamera (auf bis zu zehn Meter Entfernung) die Position des Spielers in bewegte Bilder auf dem Fernseher um.
Um es den älteren Leuten einfacher zu machen, kann Thomas Heydel die B-Taste so festklemmen, dass sie diese nicht mehr dauerhaft drücken müssen. Thomas Heydel also installierte Beamer und die beiden Boxen der Konsole an festen Plätzen und stellte die Konsole auf einem Tisch an der Wand auf. Zu den beiden mitgelieferten Fernbedienungen kaufte das Heim noch zwei weitere dazu, damit stets die maximale Anzahl an Spielern eingebunden werden kann.
Jetzt ist Herr Blumrich an der Reihe. Er sitzt, ein wenig in sich zusammengesunken, zwischen seinen beiden Mitspielerinnen. Frau Klein weist ihn bestimmt auf sein Dransein hin. Er hebt langsam den Kopf, dann die rechte Hand, die die Fernbedienung hält. „A drücken?“, fragt er, wie jedes Mal, wenn er dran ist. Thomas Heydel tritt an seinen Stuhl. „Ja, jetzt müssen Sie kurz das A drücken“, erwidert er. Behutsam, geduldig und hilfsbereit geht er immer wieder auf die drei Mitspieler ein. Dann holt Herr Schade aus. Und wirft immerhin achtundneunzig Kegel um. Der zweite Wurf schafft auch die letzten beiden. Zufrieden lehnt er sich zurück: „Mir gefällt hier alles.“ Frau Klein stimmt ihm zu.
An der Wand sortiert sich derweil das Spiel neu. Die Ergebnisliste wird aus- und die virtuelle Kegelbahn wieder eingeblendet. Während der ganzen Zeit spielt die Konsole typisch-monotone Computerspielmusik. „Ich mache hier die Erfahrung, dass vor allem das Kegel-Spiel, vor allem die Variante mit den 100 Kegeln, für ältere Menschen am besten geeignet ist. Die Bewegungsabläufe sind einfach zu merken“, erzählt Thomas Heydel. Jeder kann in Ruhe die Kegel anpeilen, hat zwei Würfe und dann eine Pause, solange die anderen dran sind spielen. Löst sich die Sperrtaste mal nicht, darf man es solange nochmal versuchen, bis es klappt. Leider sei ansonsten die Auswahl an Spielen, die für ältere oder behinderte Menschen geeignet sind, noch gering.
Bis zum Beginn seines ehrenamtlichen Einsatzes in dem Leipziger Pflegeheim hatte sich der gelernte Maschinist nie mit den Themen Älterwerden und Pflegebedürftigkeit beschäftigt. Begriffe wie Demenz, Inkontinenz, Rollstuhl oder Pflegebett seien ihm zwar geläufig, aber irgendwie bedeutungsleer. Mittlerweile hätten sich bei ihm einige Ansichten über das Leben, über Verantwortung und den Tod geändert.
„Viele Bewohner sind zwar körperlich nicht mehr ganz so fit wie früher, haben aber selbstverständlich noch Wünsche und Bedürfnisse wie andere Menschen auch. Da sollte jeder schauen, wie er im Rahmen seiner Möglichkeiten helfen kann. Ich komme einmal die Woche und bringe etwas Spaß und Unterhaltung. Eventuell kommt ja dann, wenn ich alt bin, auch mal so jemand zu mir.“ Derzeit arbeitslos, könne er auf diese Weise vielleicht zumindest einen Teil der Leistungen, die er von der Gesellschaft bekommt, zurückgeben. „Ich bringe Spaß hierher. Manchmal kommt es untereinander sogar zu kleinen Konkurrenzkämpfen. Am Ende der Runde wird immer genau geschaut, wer wie viel Punkte, wer sich verbessert oder gar einen Rekord gebrochen hat.“
Bei Frau Schade funktioniert heute die Fernbedienung manchmal nicht. Die Sperrtaste blockiert. Thomas Heydel hilft. Die Bewohnerin schwingt den Arm erneut, in einem flachen Bogen. Die Kugel rollt langsam über die Bahn. Es klappert und siebzig Kegel fallen. Inzwischen gibt es hier im Pflegeheim einen festen Stamm von vier Spielern; abhängig vom Gesundheitszustand kommen hin und wieder noch weitere Bewohner dazu.
„Wir haben uns damals für die Wii entschieden, da die Bedienung auch für Menschen ohne Computer- oder Videospiele-Vorkenntnisse leicht lernbar ist. Gleichzeitig trainiert sie die motorischen und geistigen Fähigkeiten“, erzählt Ingrid Otto, seit 1997 die Leiterin des Heims. Zusätzlich sei ein Gemeinschaftserlebnis gegeben. „Die Spiele-Konsole erfährt in unserem Haus eine große Resonanz. Allwöchentlich warten die Bewohner schon vor der Tür, um ja pünktlich da zu sein.“
Die nächste Runde beginnt. Frau Klein streckt den rechten Arm neben der Stuhllehne weit nach hinten und holt kraftvoll aus.